Baguette, zwei Bier.. Symmetrie­spiele / Texte

Yoichiro Nambus, Makoto Kobayashis und Toshihide Maskawas Arbeiten zur spontanen Symetriebrechung gehen davon aus daß kurz nach dem Urknall nur ein einziges Materieteilchen Überschuß in einem symmetrischen Gleichgewicht von Myriaden von Materie- und Antimaterieteilchen die Enstehung des gesamten Universums anschob. Ohne diesen ersten entscheidenden Symmetriebruch wäre nicht nur Müller-Schmidt NICHTS. Leben als Reich der Assymmetrie, in dem Humanoide durch Symmetrie arbiträrer Elemente Ordnung erfinden ?

Müller-Schmidt schreibt in einer naßkalten Februarnacht wie Müller-Schmidt an einem regnerischen Februarabend in der kleinen Schwarzwaldmetropole einkaufen geht. 19h30. Der Mini – Supermarkt im Erdgeschoß des Mini- Hochhauses schließt in 30 Minuten. Unter dem roten, ausladenden Schirm trägt Müller-Schmidt Zimmermannshose, rotweißgrau kariertes Tweedjackett, gelb-rot-grün kariertes Schal, darüber ein olivgrünes Militärteil und einen Tuthut (1) mittlerer Krempengröße. Ein kleiner, grauer Rucksack baumelt. Der Regen ist gerade an der Schneegraupelverfestigungsgrenze. Es prasselt auf der Schirmhaut. Reger Autoverkehr spielt stop go – go auf der Stadtstraße. Wie in einer Spielzeugeisenbahnlandschaft scheinen die Ereignisse, die eine kleine Schwarzwaldmetropole tagtäglich zu bieten hat, mit fein kalibrierter Sinnfälligkeit abzulaufen.
4 Sekunden Hupen am Kurvenausgang. Radler(in?) Millim, von Kopf bis Fuß in regendichtes Fahrradpolyester geschweißt, hat quer die Straße geschnitten und einen Kleinwagenpiloten in seinen retrorapiden Träumereien jäh ausgebremst. Die Freundin des Kleinwagenpiloten- Miaim, hatte ihm eben noch von den japanischen Autorennen in Amzuzma erzählt, wo sogenannte Drof Challenger Boliden alle und immer in weiß mit 6 Gängen rückwarts rasen, 340 km/h im 6. Rückwärtsgang. Nach der Eingebung eines Journalisten nannten neuerungsbegeisterte Japaner diese Sportart Mordotom.

Müller- Schmidt und Radlerin Millim verschwinden im Supermarkt. Das Rücklicht von Radlerin Millims Rad leuchtet nach und spiegelt sich im gelbroten Eingangslicht der elektrischen Glasschiebetür, um nach einer Minute langsam zu erlöschen. (In der Wabenstruktur des verlöschenden Fahrradrücklichts könnte ein aufmerksamer Kriminologe das Logo der Supermarktskette entschlüsseln. Tadat.)

Müller-Schmidt steuert zielstrebig die Bäckereilade an: 1 Baguette, gleich daneben die Bierkästen: Er fischt mit dem Daumen- Zeige- Mittelfingergriff 2 Ratskrone Flaschen, angelt eine Dose Thunfisch aus dem Regal über den Tiefkühltruhen. Am Getränkeautomat steht die verhüllte Kundin, das Gesicht zum Ziffernblock des Automaten gewandt. Flüsterte sie „Enorkstar “ ? 
Müller – Schmidt hat Gemüse vergessen, zurück zum Gemüsestand. Er kugelt einen großen Kopf Sellerie aus dem Gemüsekarton in den Milchkarton Lillil, in dem er seine Waren sammelt.

Radler(in?) Millim schießt im Eilschritt durch den Laden, von den Bierkästen an der Bäckereilade vorbei zu den Dosenfischen über den Tiefkühltruhen. (Gleichzeitig u.a.: Die verhüllte Kundin füttert die versiffte Röhre des Getränkeautomaten mit Bierflaschen.) Kleiner Abstecher zum Gemüsestand und ab Richtung Kasse. Roter Knopf und Zahl 33 spuckt einen „Schwarzer Krauser“ aus. Radler(in?) Millim legt ihre Waren aufs Fließband: 1 Sellerie – Dose Thunfisch in Öl – Schwarzer Krauser – 2 Ratskrone Bier – Baguette. Da kommt Müller- Schmidt und packt aus dem Milchkarton seine Waren auf das Fließband. Roter Knopf und Zahl 33 spuckt einen „Schwarzer Krauser“ aus: Baguette – 2 Ratskrone Bier – Schwarzer Krauser – Dose Thunfisch in Öl – 1 Sellerie.

Millim schaut verdutzt: „Sie haben die selben Sachen eingekauft wie ich. Haargenau die selben Sachen! Und spiegelsymmetrisch auf dem Band !!!!“ Müller- Schmidt, eben noch in Erwägungen vertieft, welchem Geschlecht die Radler(in?) zuzuordnen ist, sieht jetzt in einen Spiegel, auf dem Fließband spiegeln sich die Waren der Radler(in?) und die seinen. Nur Müller-Schmidts Sellerie entzieht sich des symetrischen Bildes durch seine wurzelig-wuseligen Individualverwirbelungen. Doch Müller-Schmidts Blick bleibt hängen, gehorchen die Verwirbelungen seines Selleries nicht einer vertrackten Drehsymmetrie mit dem Sellerie der Radler(in?), ist das nicht ein Fall von Fraktalmuster ? Ist das nicht ein Blitz Naturschönheit ? „Ich bin nicht nur Ware ?“
Müller – Schmidt: „Äähää, mm, abrakadakarba – mhm“ Die verhüllte Kundin schiebt ihren Einkaufswagen Müller – Schmidt ins Kreuz und lugt mit Stielaugen auf das Transportband, flüstert etwas wie „Hinter den Spiegeln.“
„Na, dann noch einen schönen Abend-“ sagt Radler(in?) Millim zu Müller-Schmidt, mühsam ihre Erregung verbergend, denn das war heute schon das zweite Symmetrieereignis der Kategorie Escher IV. 
Müller-Schmidt, kaum zuhause angekommen, klickert die Geschichte „ Baguette, zwei Bier.. “ in die Laptoptasten. Inklusive einer (lächerlichen) Kurzrecherche über das gigantische Material der Symmetrieforschung und den bedenklichen Rätseln die verhüllte Kundin betreffend sitzt er bis 4 Uhr Nacht an der Geschichte, während Radlerin Millim, zuhause angekommen ihre im Milchkarton Lillil gesammelten Waren auf den Küchentisch stellt, gespiegelt von raffiniert angeordneten Spiegelreihen und ohne Pause, noch im triefnassen Fahrradpolyestergesamtkörperanzug den Rechner startet: im Flimmern des Monitors wird aus Radlerin Millim die ihrem zentralen Faszinosum ausgelieferte Physikerin Millim: Symmetrieforscherin – Symmetriejägerin.
Während sie in die Kapuzenklamotten aus der Hausbesetzerzeit hüpft, flimmert im Takt von „Madam I´m Adam.“ der Bildschirmschoner: eine stroboskobische Palindromsammlung. „Sei fies ! Tu erfreut! Hahahah Anna !“ Millim ist in den letzten Jahren während ihrer Forschungen am physikalischen Institut der kleinen Schwarzwaldmetropole -Spezialgebiet „Diskrete Symmetrien“ und „Punktgruppen“ – mehr und mehr der Privat- Jagd nach ablaufsymetrischen Alltagsereignissen verfallen, wie das Erlebnis eben im Supermarkt. Sie genoß die Täuschung einer Ordnung, die eine Schaumkrone der Konvergenz durch einsehbare Operationen (des Verstandes) im Ozean der Divergenzen haluzinierte. Es war ihr klar, daß Symmetrie ein reines Geisteskonstrukt war, daß nur der Grad der jeweiligen Ungenauigkeit überhaupt Symmetrie zuließ. (So war sie z.B. vor dem Spiegel als physikalische Musterfrau zwar spiegelsymmetrisch im Gegensatz zu einem holzbeinigen Piraten, bei auch nur etwas genauerem Hinsehen aber nie und nimmer: hier ein Fleck, hier die Ahnung eines anderen Auges. Ganz abgesehen davon, daß sie bei vielen oberflächlichen Beobachtern von Anbeginn in einer geschlechtsspezifisch anderen Versuchsanordnung gelandet wäre.)
Auf der von Millim entworfenen „Fünfstufigen Escher Skala“ (2) war das Ereigniss im Supermarkt mindestens mit IV zu werten, ähnlich der noch nach dem 9. Zug symmetrischen Formation der Italienischen Partie bei hinreichender Chancengleichheit (?) , die sie noch gestern abend ausgetüftelt hatte . Meist waren symmetrische Schachsituationen schon gleich nach 1-2 Zügen völlig unsinnig und der Symmetrie erzeugende Spieler dem Untergang geweiht.

symmetrie_schach
Symmetrie Schach

Symmetrie Schach

Zwei Symmetrieereignisse der Kategorie Escher IV an einem Tag, Grund genug, einen Champagner Bauget-Teguab zu öffnen. Das war jetzt allerdings schon der 3. Bauget-Teguab diese Woche, gestern 2 Mal Escher IV, vorgestern 3 Mal Escher IV.

Die Ereignisse der letzten Tage leisten einer absurden Hypothese Vorschub, die Millim mehr und mehr umtreibt (und der derzeitigen Datenlage der Physik widerspricht, die eher von einer unendlichen Expansion des Univerums und Zunahme der Assymetrie ausgeht) : daß nämlich zunächst als Entwicklung von Wochen und Monaten, dann beschleunigt, die Zunahme der Entropie und das Reich der Asymmetrie kippt und gemäß dem Prinzip eines „Big Crunch“das Leben und das Universum wieder rücklaufen würden zu einer kontinuierlichen Vereinfachung und Symmetrieerzeugung. Ein solcher Universalimpact würde sich im Alltag durch eine rapide Vermehrung symmetrischer Zustände und Ereignisse zeigen. Von einem Jahr auf das andere würden alle Tomaten genau identisch aussehen, keine Kartoffel wäre von der anderen unterschieden, die heute noch marginal verschiedenen Menschen würden sich rapide angleichen, Prozesse, die schon seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen hatten und sich nun beschleunigten. Schließlich würden sich alle Lebensformen auf einfachst strukturierte Einzeller rückentwickeln und das Universum unter der Wirkung der Gravitationskraft wieder kollabieren und in einem umgekehrtem Urknall, dem „Big Crunch“, enden: das Erscheinen der totalen Symmetrie. Millim leert die Flasche Bauget-Teguab und lässt sich müde Kapuzenklamotten- verhüllt ins Bett fallen, fallen, fallen. Nellaf, nellaf, nellaf tteb sni tllührev-nettomalknezupak…..

Um 4h05 in der Nacht, nachdem Müller-Schmidt den vorläufig letzten Punkt unter die Geschichte „ Baguette, zwei Bier.. “ gesetzt hat, genehmigt er sich einen Freixenet Brut , zurückgekehrt in der allmächtigen Divergenz, im Reich der Myriaden Möglichkeiten asymmetrischer Ereignissabläufe. 30 Minuten später, die Flasche ist zur Hälfte geleert, schaut er aus dem Fenster und sieht die letzten Betrunkenen dieser verregneten Nacht die Straße hinuntertorkeln. Drei Männer in Zimmermannshose, rotweißgrau kariertem Tweedjackett, gelb-rot-grün kariertem Schal, darüber olivgrüne Militärjacketts und einen Tuthut mittlerer Krempengröße. Alle tragen einen kleinen, grauen Rucksack und torkeln exakt drehsymmetrisch, sie sehen völlig identisch aus unter den drei roten Regenschirmen. Und Müller-Schmidt beginnt zu torkeln am Fenster, der Drehsymmetrie gehorchend, wo ist das Militärjackett, wo ist der kleine graue Rucksack, wo ist der rote Schirm, denkt er noch unter seinem Tuthut, tuhtut…

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(1)
Als 3-4-5- jähriger pflegte Müller-Schmidt junior seinem Vater Hüte zu entwenden und mit ihnen „Cowboy“ „Bahnhofsvorsteher“ „Bonze“ oder „Bauer“ zu spielen. Die jeweiligen Hüte im entsprechenden Spielzusammenhang hießen Tuthüte. Sie verwandelten den Träger und produzierten Raum-, Zeit- und Identitätssprünge. (Siehe hierzu die Geschichte „Tuthut“ des Autors Bertold Albrecht, Freiburg im Brsg. )

(2)
Millims „5 wertige Escherskala“ zur Beschreibung von (Alltags-)Symmetrieen ist inspiriert von Eschers Bildwelten. Aus copyright Gründen können die Bilderhier nicht gezeigt werden, sie sind aber unter www.mcescher.com -Link- Picture Gallery unter dem entsprechenden Jahrgang zu finden.
Kategorie I: 
Einfache Symmetrieen aus 1-3 Elementen mit schnell und intuitiv einsehbaren Symmetrieoperationen (Spiegelung, Drehung, Verschiebung). Von Menschen bewußt produziert oder „naturgegeben“.
Entspricht den Escherwerken ||
Doric Column, 1945 // Plainfilling Motive with Birds , 1949

Kategorie II:
Symmetrien aus 3-6 Elementen mit Symmetrien, die statistisch etwas mehr Zeit zur Mustererkennung brauchen. (mit Symmetriebildung aus Kategorie I plus Farbsymmetrieen und komplexen geometrischen Symmetrieen)
Entspricht den Escherwerken ||
Sun and Moon, 1948, woodcut printed from 4 block // Moebius Strip 2, 1963 //
Die meisten, der unter „Symmetric Drawings“ der obengenannten Website aufgeführten Arbeiten.

Kategorie III:
Komplexe Symmetriebildungen mit mehreren Musterelementen und /oder nicht sofort einsehbaren (nicht intuitiven) Symmetrieoperationen. Symmetrien von Fraktalobjekten.
Entspricht den Escherwerken ||
Predestination, 1953 // Path of Life 3, 1966 // Snakes 1969

Kategorie IV:
Komplexe Symmetriemuster in Alltagsereignissen ohne bewußte menschliche Eingriffe in raumzeitlich abgegrenzenten Zusammenhängen.
Entspricht dem Escherwerk ||
Up and down, 1949

Kategorie V: „Impact“ Symmetrieen, spontane Welttransformationen, Realitätseinstülpungen (-ausstülpungen), spontane Wahrnehmungsverwerfungen unter Symmetrieeinfluß, katastrophische Symmetrieerscheinungen , Extremfall: „Big Crunch“. Entspricht den Escherwerken || Print Gallery, 1956 // Smaller and smaller, 1956 // Das „ungeschaffene Werk“ Eschers, Eschers Ahnungen.

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