Die Fensteranlagen. Superagentin Vincis Zitate
Er dachte, er könne jetzt getrost nach Bologna fahren, nachdem ihn der Inspektor freundlich entlassen hatte.
Kaum waren tags darauf die Koffer gepackt, der Sitzplatz im Zug reserviert und seine baldige Ankunft gemeldet, als ihn ein Telefonanruf erreichte. Er solle doch noch einmal vorsprechen, man habe da etwas vergessen und sicher sei seine Angelegenheit in wenigen Minuten zur Zufriedenheit aller gelöst. Er nahm die Platzreservierung zurück und telefonierte nach Bologna, er werde einige Stunden später eintreffen. Den Koffer ließ er gepackt, er holte nur sein Notizbuch aus der Manteltasche und machte sich auf den Weg zum Gebäu. Der Inspektor ließ ihn schon am Eingang erwarten und man führte ihn in einen ihm bislang unbekannten Büroraum. Nach längerer Zeit wurde er in ein Nebenzimmer zum Inspektor gerufen. Dieser legte ihm Fotografien vor.
„Aus ihrem Leben , Herr Taviani“, sagte er. Taviani hatte die Fotografien nie zuvor gesehen: Bilder seiner Kindheit auf dem Hof im apulischen Hochland, von seinen Eltern und Geschwistern, Bilder seiner Schul- und Studienzeit und einige Fotos seiner schon früh verstorbenen Frau. Die neuesten Fotos waren gerade zwei Wochen alt. Alle Bilder waren schräg von oben fotografiert, gerade in einem solchen Winkel, daß die Gesichter noch erkennbar waren. Der Inspektor stellte zu den Fotos noch einige Fragen, aber Taviani konnte nicht antworten. Etliche Fotos zeigten Begebenheiten, an die er sich nicht mehr erinnern konnte oder es schien ihm, daß er manches, was auf den Fotos zu sehen war, nie erlebt hatte. Der Inspektor legte ihm nahe, bei Superagentin Vinci vorzusprechen. Ab morgen sei sie im Gebäu.
Taviani war leise verärgert, aber er getraute sich nicht, Einspruch zu erheben. Der Inspektor entließ ihn.
Taviani fand nicht mehr zurück zum Ausgang, er verirrte sich und schließlich konnte er auch nicht mehr den Raum entdecken, wo er eben noch mit dem Inspektor gesprochen hatte. Er sah und hörte keinen Menschen und da alle Gänge und Räume schalldicht waren, nutzte es auch nicht zu rufen. Nach langer Zeit des Umherirrens hatte er noch keinen Ausgang gefunden. Er wurde sehr müde und beschloß, sich in einem der tausenden von Räumen, die von den Gängen wegführten, schlafen zu legen. In einem Büro, dessen Tür offenstand und das augenscheinlich schon länger nicht benutzt worden war, richtete er sich aus den Polstern zweier Sessel und einem Wandteppich ein Bett hinter dem Schreibtisch.
Am nächsten Morgen weckte ihn ein Angestellter, der auf keinerlei Vorwürfe einging und nur gelassen bat zu folgen.
Zwanzig Minuten lang wurde er durch Gänge und Flure geführt, die ihm unbekannt waren, die er nie zuvor gesehen hatte. Nach 10 Jahren der Beschäftigung im Gebäu, war es ihm, als kenne er einige hundert Gänge, Flure und Räume zumindest grob, aber seit seinem Gespräch mit dem Inspektor hatte er fast nichts wiedererkannt. Der Angestellte wies ihm schließlich eine offene Tür und verabschiedete sich höflich. Offensichtlich befand er sich im Büro von Superagentin Vinci. In diesem Raum war er schon einmal gewesen. Aber er konnte sich an den Weg hierher nicht mehr erinnern. Ein steinerner Sessel glänzte hinter einem steinernen Schreibtisch. Auf dem Marmorfußboden hallten die Schritte seltsam laut, als seien Mikrophone eingelassen, die jeden Schritt aufnehmen und über versteckte Lautsprecher wiedergeben.
Mehrere kleine Deckenscheinwerfer sorgten für helles, gleichmäßiges Licht. Nach einiger Zeit trat Superagentin Vinci durch die Tür hinter dem Schreibtisch und grüßte.
Taviani beschwerte sich über die unangemeldete Einberufung , aber Superagentin Vinci erinnerte ihn an die Verträge, die er unterzeichnet hatte und er lenkte ein. Superagentin Vinci erklärte, sie sei vom gestrigen Gespräch informiert und machte ihm klar, daß er dringend gebraucht werde und daß zunächst eine lange, lückenlose Aufarbeitung seiner Vergangenheit anstehe.
Zunächst solle er nur den Fahrradausflug beschreiben, den er als 20- jähriger mit seiner damaligen Geliebten unternommen habe , eine sehr einfache Aufgabe, da er ja seinen Kollegen oft erzählt habe, daß das eine sehr glückliche Zeit, vielleicht die glücklichste, für ihn gewesen sei und er sich sicher ohne weiteres daran erinnern und dies beschreiben könne. Danach würden die Aufgaben möglicherweise schwieriger, aber es ginge immer nur um seine Vergangenheit und nichts unmögliches werde verlangt. Frau Vinci gab ihm die Nummer seines künftigen Arbeitsraums, in dem er auch wohnen werde. Seinen -freundlicherweise schon gepackten-Koffer habe man holen lassen. Erschrocken fragte Taviani, ob er einen Fehler begangen habe, daß es zu dieser Einberufung komme, aber Superagentin Vinci verneinte lachend. Er wollte noch weiterfragen, wurde aber von zwei Angestellten mit sanftem Druck hinausgeführt.
Er folgte ihnen zu seinem angewiesenen Wohn- und Arbeitsraum.
Sie machten ihn noch einnmal darauf aufmerksam, daß er den Raum jetzt nicht mehr verlassen könne, ausgenommen der Weg zu den Fensteranlagen am Ende des Ganges, die ihm selbstverständlich zur Verfügung stünden. Desweiteren sei für alles gesorgt, desweiteren, desweiteren… Ohne die Datumsanzeige in seinem Raum hätte er nicht gemerkt, daß in einer endlos langen Zeit ein Jahr vergangen war, in dem er 225 Beschreibungen des Fahrradausflugs abgegeben hatte, die alle abgelehnt wurden. Immer wieder ließ Superagentin Vinci verlauten, die Aufarbeitung sei lückenhaft und in keiner Weise vollständig. Tage, an denen er die Arbeit verweigerte, schienen noch länger zu dauern als die, an denen er seiner Pflicht nachging. So verweigerte er immer seltener die Arbeit.
Frischluft und Aussicht bezog er über die sogenannten Fensteranlagen, die er jederzeit durch den Gang bequem erreichen konnte. Unzählige Aussichten waren über Knopfdruck simulierbar. Er besah sich häufig Parkanlagen des 18. Jahrhunderts, aztekische Tempel, Oasen in der Sahara,
eine seltsam gedämpfte Stadt gedämpfter Lichter,,Ausschnitte der chinesischen Mauer sowie Straßenzüge aus Paris und London vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Das Essen war reichhaltig und gut. Es gab täglich frische Kleidung. Badezimmer und Toilette waren großzügig. Die Personen, die ihm Essen und Toilettenartikel brachten, wechselten häufig. Einmal im Monat sprach ein Arzt vor, der ihn nach Maßgabe von Superagentin Vinci untersuchte.
Der Arzt, die Essensbringer, überhaupt alle, die mit Taviani in Berührung kamen, verweigerten auf höhere Weisung jegliches Gespräch. Lediglich die Formulierung „höhere Weisung“ ließ Taviani vermuten, daß Superagentin Vinci noch mit seinem Fall betraut war. Nur die notwendigsten Bemerkungen wurden zugelassen. Die Isolierung und die gesteuerte Mißachtung durch das Personal brachte ihn bald an den Rand des Wahnsinns. Die Kontakte waren gerade so gehalten, daß er nicht vollständig verrückt wurde. Ein ausgeklügeltes wissenschaftliches System sorgte perfekt dafür, Taviani immer gerade am Rande des Wahnsinns zu belassen, ihn im rechten Moment immer wieder medikamentös abzufangen. Immer wieder hatte Taviani verlangt, bei Superagentin Vinci vorgeführt zu werden, einige Male hatte er die Essensbringer angeschrieen und einmal sogar angegriffen, worauf 2-3 Ordner den Raum stürmten, um ihn in eine Ecke zu drücken oder ihm eine Beruhigungsspritze zu geben. Die Beschreibungen des Fahrradausflugs, dieser „glücklichen oder glücklichsten Zeit“, waren am Anfang kurz, wurden immer länger, um am Ende dieses endlosen Jahres wieder kürzer zu werden. Schließlich kritzelte er nur noch Fahrräder auf das Papier, dann Striche, Netze, wirres Zeug, er aß immer weniger rief immer wieder 3-4 Namen. Auch den Namen der Superagentin.
Die Essensbringer starrte er fassungslos an. Sie hatten ein ganzes Jahr nie mehr als höchstens einen kurzen Satz gesprochen und dann abgebrochen. Nach der Datumsanzeige waren 15 Monate vergangen, als man ihm das Fahrrad seines Ausflugs von damals in den Raum stellte. Außerdem Fotos und Briefe seiner damaligen Geliebten. Es war der 2.11.2019. Er schrieb nichts mehr, kritzelte auch nichts mehr, trotz eindeutiger Direktiven, es weiter zu versuchen. Superagentin Vinci (die ihn kontinuierlich hatte beobachten können, da ihr einzig und allein sein Fall anvertraut worden war) meinte, Taviani hätte versagt, es sei doch ein liberales Lebensverhältnis gewesen und die Aufgabe nur gekoppelt an die Beschreibung einer glücklichen Zeit.
Aber eigentlich sei ohnehin alles Versagen, dieses den Sinn und die Geschichte plattwalzende Zugeständnis müße sie doch machen, selbst Goethe habe sich zerüttet und er habe es geahnt und sie zitierte einen Brief Goethes, den dieser 5 Tage vor seinem Tod an W.V. Humboldt geschickt habe:
„Ganz ohne Frage würde es mir unendliche Freude machen, meinen werten durchaus dankbar anerkannten, weit verteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so verwirrt und konfus , daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als das , was an mir ist und geblieben ist womöglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohibieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.“
Die Angestellten, die Superagentin Vinci zuhörten, hatten Taviani schon fast vergessen und sie sollten ihn noch ganz vergessen.
So wie jeder und jede für sich unterging, mußte jeder und jede irgendwann durch die anderen untergehen. Das war Superagentin Vincis unausgesprochene Ansicht und sie wurde von den Oberen geteilt und die Unteren schienen mitzumachen. Untere konnten durch Untere oder Obere untergehen, Obere konnten durch Obere oder Untere untergehen.
Wenn auch fast nichts gleich verteilt war in diesem Gebäu, so war es der Untergang und die fürsorgende Haltung der Pflegekräfte.
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